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Bernard Mandeville und Giambattista Vico

 

 

In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts waren Spinoza, Pierre Bayle und Bernhard Mandeville die verabscheuten Buhmänner der gelehrten Welt Europas. Tunlichst distanzierte man sich von diesen zwielichten Denkern; wer Sympathie oder Verständnis signalisierte, der riskierte seine Karriere. Mandeville galt als Amoralist, als ein Mensch, der das Laster nicht verabscheute, wie jeder Christenmensch, sondern der es liebte. Das war allerdings ein Mißverständnis.

 

In seinem Hauptwerk “Die Bienenfabel” vertrat Mandeville eine gewagte und höchst mißverständliche These. Er behauptete, daß in einer entwickelten Gesellschaft private Laster in öffentlichen Reichtum umschlagen: “private vices common benefits” lautet die Formel, mit der er das Funktionieren moderner Gesellschaften beschreiben zu können glaubt.

 

Mit Laster meint Mandeville nicht schwere Kriminalität, sondern den klugen Schwindel, den raffinierten Betrug, der Arbeitgebern, Ärzten, Rechtsanwälten, Militärs und Klerikern Vorteile verschafft und ihren persönlichen Reichtum begründete. Mandeville meint mit Laster “the Fashionable Ways of Living”, das gerade zur Mode Gewordene, das Angesagte und das Verbotene, das Ausgefallene und Exklusive, was von jenen praktiziert wird, die öffentlich all das als schändlich verdammen.  Vgl. Linares S. 92 In Versen formulierte es Mandeville so:

 

“Man lebte gut, doch rühmt’ als ehrlich

Sich gern, war das Gehalt auch spärlich.

Was man erwarb durch Schwindelei’n,

Strich man als “Nebengelder” ein,

Und wenn das Volk den Kniff erkannte,

Man es ‘Emolumente’ nannte,

Damit man nicht verständlich sei,

Wo irgendein Profit dabei.” (B. Mandeville, Die Bienenfabel, Frankfurt am Main 1980, S. 83)

 

Als Menschenkenner geht Mandeville davon aus, daß alle Menschen durchaus danach verlangen mehr zu bekommen als sie verdienen; genau in dieser Veranlagung sieht er das Hauptfundament unserer Gesellschaft. Eine reiche Wohlstandsgesellschaft schließt die völlige Tugendsamkeit ihrer Mitglieder aus, ja Tugendsamkeit wird praktisch unmöglich!

 

Dabei versteht sich Mandeville keineswegs als Vorkämpfer des Lasters; er fordert ausdrücklich, daß jeder, dem der Bruch eines Gesetzes nachgewiesen werden kann, auch dafür bestraft werden soll. Er stellt vielmehr fest, daß der kriminelle Akt - Schwindel, Betrug, Fälschung - (Mandeville spricht von “vices”, was im Deutschen mit “Laster” wiedergegeben wird) vom erfolgreichen Funktionieren einer großen sozialen Gemeinschaft nicht abtrennbar ist. Mandeville gehört also zu jenen Denkern, die der Öffentlichkeit beweisen wollen, daß Gesellschaft sehr viel anders aufgebaut als man gemeinhin glaubt. Seine Analysen gehen dahin aufzuzeigen, was zu tun ist, um den Reichtum einer Gesellschaft zu bewahren.

 

Diesem Zusammenhang von “private vices common benefits” forscht Mandeville in sämtlichen sozialen Teilgebieten nach, noch in den unscheinbarsten menschlichen Beziehungen glaubt er ihre Relevanz zu erkennen.

 

 

Giambattista Vico hat mit Mandeville eines gemeinsam: Der eine wurde von den Zeitgenossen genauso wenig ernst genommen wie der andere. Vico rieb sich am damaligen Wissenschaftsverständnis, was damals stark von René Descartes geprägt wurde. Für Descartes besteht die Evidenz einer Wahrheit darin, daß diese klar und deutlich (clare et distincte) durch die Sinne bezeugt werden kann. Dabei richtet sich die Hauptaufmerksamkeit cartesischer Wissenschaftlichkeit auf die Gebiete der Metaphysik, der Theologie und der Physik.

 

Vicos neue Wissenschaft (seine nuova scienza) leugnet das cartesische Evidenzdenken und setzt an dessen Stelle die Formel von der Austauschbarkeit von verum und factum; deutlicher gesagt: Für Vico können wir eigentlich  nur erkennen, was wir selber gemacht haben, das Wahre und das Gemachte sind austauschbar.

 

Nun gehören die Metaphysik und die Theologie nicht zu den Bereichen, in denen der Mensch seine Werke verrichtet. Auch die Natur ist kein Erzeugnis des Menschen. Damit rücken die von Descartes bevorzugten Wissenschaften der Natur und der Metaphysik in den Hintergrund; für Vico ist die Geschichte die wichtigste Wissenschaft, denn die Geschichte ist, bei gewissen Einschränkungen, von Menschen gemachtes Erzeugnis; die nuova scienza hat vor allem die Prinzipien der Geschichte zu erforschen!

 

Gemäß den Prinzipien von Vicos nuova scienza wird es möglich, eine ewige ideale Geschichte darzustellen, nach der die Geschichten aller Völker mit ihrem Aufstieg, Fortschritt, Zustand, Verfall und Ende ablaufen. “Ja, wir getrauen uns zu sagen, daß, wer diese Wissenschaft überdenkt, insofern sich selbst die ewige ideale Geschichte erzählt, als er sie mit jenem Beweis: es mußte, es muß, es wird müssen, sich selbst schafft - da doch, nach unserem ersten unbezweifelbaren Prinzip, die historische Welt ganz gewiß von den Menschen gemacht worden ist und darum ihr Wesen in den Modifikationen unseres eigenen Geistes zu finden sein muß; denn es kann nirgends größere Gewißheit für die Geschichte geben als da, wo der, der die Dinge schafft, sie auch erzählt.” G. Vico, Die neue Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker, Reinbek 1966, 59

 

Die Historie erscheint bei Vico als eine Modifikation des Geistes; eine Untersuchung des menschlichen Geistes führt dann auch zwingend zur Offenlegung der gesamten Geschichte des Menschen von Anfang bis zum Ende aller Zeiten. Es ist in der Tat bei solchen Gedanken unvermeidlich an Hegel und seine Geschichtsphilosophie zu denken. Vico, der, wie bereits gesagt, zu seinen Lebzeiten kaum Beachtung erfuhr, gilt als Vorläufer, als zu früh Geborener, als verkannter Begründer der Geschichtswissenschaft. Er sei seiner Zeit zu weit voraus gewesen, um Einfluß zu nehmen. Manchmal wird er auch dafür gerühmt, daß er den Pragmatismus, den Existenzialismus oder den Strukturalismus vorweggenommen zu haben.

 

Peter Burke hat diesen Aspekt der Vico-Forschung den Vico-Mythos genannt. (Peter Burke, Vico. Philosoph, Historiker, Denker der neuen Wissenschaft, Frankfurt am Main: Fischer 1990, S. 8) Ein klares Bild von Vico ist sicherlich nur möglich, wenn sein Bild von mythischen Momenten bereinigt werden kann. Burke hebt hervor, daß Vico ein erstaunliches Talent besaß, unerwartete Zusammenhänge zu sehen. (Burke S. 114)