Wilhelm Dilthey und Ernst Mach
1872 lieferte Claude Monet mit seinem Bild “Impression. Soleil levant” der neuen Kunstrichtung ihren Namen. Die Impressionisten wollten die Erscheinungswelt so wiedergeben, wie sie das Auge unmittelbar darbot. Ob nun der ungewohnte Blick auf die Dinge der Welt nachhaltig neue Wirklichkeitsdispositionen beeinflußte oder ob diese in den anderen Bereichen der Kulturgeschichte gewissermaßen “in der Luft” lagen, das sei dahingestellt. Es gab jedenfalls eine “impressionistische Literatur”, den “Naturalismus” nämlich, mit Emile Zola in Frankreich und Peter Altenberg, Arno Holz und Arthur Schnitzler als namhafte Vertreter im deutschsprachigen Bereich.
Und auch in der Philosophiegeschichte gab es Strömungen, die dem Impressionismus mit seiner Zentralstellung subjektiver Sichtweisen entsprachen. Wilhelm Diltheys Lebensphilosophie und Ernst Machs Empiriokritizismus sind solche Entwürfe. Beide, Dilthey und Mach, greifen auf den subjektiven Eindruck als grundlegende Tatsache zurück, um darauf aufbauend ihre komplexen Philosopheme zu entfalten.
Nun darf nicht vermutet werden, daß zwischen den philosophischen Konzepten Diltheys und Machs große Ähnlichkeit bestehe, nur weil der Kern, der Ausgangspunkt ihres Gedankenweges identisch ist. Tatsächlich sind kaum zwei Denker zu finden, deren Philosophien so gegensätzlich, so ausschließend, so konträrer Art sind, wie bei Dilthey und Mach. Dilthey beschäftigte sich mit der Methodik der Geisteswissenschaften, Mach dagegen mit der der Naturwissenschaften. Dilthey ist vom Vorrang der Geisteswissenschaften überzeugt, Mach dagegen von dem der Naturwissenschaften.
Dilthey entwickelte Begriffe, die beschreiben sollen, wie das Ich Identität entwickelt und behauptet; Mach dagegen ist fest davon überzeugt, daß das Ich unrettbar sei. Mach ist der Begründer des Positivismus in Deutschland, Dilthey ist der Erneuerer und der bedeutendste Vertreter der Lebensphilosophie in Deutschland.
Die sich ausschließenden Gegensätze im Denken der beiden sind nicht zu bezweifeln und scheint jede Verwandtschaft auszuschließen. Doch auf der impressionistischen Ebene, wo beide Philosophen ihren Ausgang nehmen, dort sind wohl auch beide dem Verlangen gefolgt, auf neue und eigentümliche Weise endlich zu den Sachen selbst vordringen zu können.
Diese Devise, “Zu den Sachen selbst”, ging zwar erst von Husserl aus, aber man kann sie sehr wohl auch für den Impetus, der Dilthey und Mach bewegte, akklamieren. Dilthey selbst sieht im Wirklichkeitssinn und der Diesseitigkeit der Interessen einen Grundzug seines Zeitalters, “ein unersättliches Verlangen nach Realität”. W. Dilthey, Gesammelte Schriften, Leipzig u. Berlin 1913ff., s. VIII, 194; I, 123; VI, 105. Das unmittelbar Gegebene, das eigentlich Positive wird zum ersten Gegenstand der Philosophie!
Vom Gegebenen auszugehen, das ist aber die Devise des Positivismus. Tatsächlich läßt sich sowohl von Mach als auch von Dilthey sagen, daß sie Positivisten seien. Die Ausrichtung am Gegebenen bei Dilthey soll die Diesseitigkeit am stärksten zur Geltung bringen. Die Ausrichtung am Gegebenen bei Mach bedeutet vor allem Abwehr jeglicher Metaphysik! Dabei will Dilthey das Leben verstehen, um es zu voller Entfaltung zu führen; das Leben beschreiben, um Kriterien zu sammeln, damit es lebensvoll geführt werden kann. Mach dagegen will die Arbeit der Naturwissenschaften verbessern, damit ihre Erkenntnisse zur Humanisierung und zur Demokratisierung des Alltags beitragen. Diltheys Philosophie ist eher individualbezogen, Machs letztlich gesellschaftspoltisch!