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Zur Philosophie Gustav Theodor Fechners und Rudolf Hermann Lotzes

 

 

Zwischen 1830 und 1848 kommt es gerade in Deutschland zu einer deutlichen Verschiebung im Verhältnis der Philosophie zu den Naturwissenschaften. Sogar von einem “Zusammenbruch” der deutschen Philosophie nach dem Tod Hegels und dem Niedergang des deutschen Idealismus ist  die Rede.  Die Philosophie galt jetzt nicht mehr als die Krone der Wissenschaften, die Wissenschaft der Wissenschaften, fortan hatte auch die Philosophie ihre Existenzberechtigung zu erweisen.

 

Das Biedermeier war eine Zeit des Übergangs in der literarischen und geistigen Formenwelt. Nicht nur die sozialen Veränderungen, die Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse waren dafür bedeutsam, es änderten sich auch die Lesegewohnheiten, die Bildungsbedürfnisse und die geistigen Interessen überhaupt. Verantwortlich dafür war wohl in erster Linie, daß sich die Naturwissenschaften formieren konnten und ein erster großer Schwall neuer Erkenntnisse, neuer Vorstellungen und neuer Methoden Europa überrollte. Zugleich erfolgte eine weitgehende Emanzipation der Menschen von der vorgeblichen Heiligkeit der Religion und der vorgeblichen Majestät der Gesetzesgebung.

 

Die Zeit des Übergangs vom Niedergang des deutschen Idealismus bis zur Neufindung der Philosophie kann vorzugsweise mit zwei Männern in Verbindung gebracht werden, mit Gustav Theodor Fechner und Rudolf Hermann Lotze. Nach der Entgötterung des gesamten Weltbaus und dem Untergang der Mythologie hatte das Zeitalter des Tatsachensinns begonnen. Das gilt nachdrücklich für beide, Fechner wie Lotze! Sowohl Fechner als auch Lotze sind überzeugt vom universellen mechanistischen Zusammenhang der physischen Welt. Dieser Welt der Körper und Dinge können nur mit strengster empirischer Methodik ihre Geheimnisse entrissen werden.

 

Nicht mehr der als weltfremd verschriene Idealismus, sondern ein entschiedener Realismus ist für die Naturwissenschaft angesagt. Nur ein Realismus, eine Weltanschauung, die überall auf Erfahrung sich stützt und die Tatbestände der Umgebungswelt vorurteilslos ansieht, konnte jetzt noch in Frage kommen.

 

War also Philosophie überhaupt noch nötig, leistete Naturwissenschaft nicht schon alles? Philosophielosigkeit sowie eine große Scheu vor abstrakter Theoriebildung war bei den Naturwissenschaftlern im 19. Jahrhundert weit verbreitet. Als Erneuerung bot sich den Philosophen an entweder der Verzicht auf Metaphysik und regelrechte Unterordnung unter die Naturwissenschaften, deren wissenschaftstheoretische Grundlegung - als neue Aufgabe - zu erarbeiten wäre.

 

Oder es galt ganz von vorn anzufangen und die Erkenntnistheorie noch einmal ganz neu aufzurollen. Diesen Weg wählte der Neukantianismus, der deshalb wieder auf Kant zurückging,  sowie die Phänomenologie, die sich in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts langsam ausbildete, und auch die spätere analytische Philosophie.

 

Philosophiehistorisch lokalisieren sich Fechner und Lotze in die Übergangszeit zwischen dem deutschen Idealismus und dem Neubeginn der Philosophie in Deutschland. Für beide Philosophen gilt, daß sie die Wirklichkeit in zwei Bereiche aufgliederten, nämlich das Reich der Körper und das Reich des Geistes. Die Naturwissenschaften beherrschen die Welt der Physis, hier gelten nur ihre Methoden. Aber der Philosophie bleibt das Reich des Geistes zur erfolgreichen Durchdringung. Die Philosophie nimmt sich jener Bedürfnisse des Gemüts an, die die Naturwissenschaft unbefriedigt läßt.

 

Zwischen den Bedürfnissen des Gemüts und den Ergebnissen menschlicher Wissenschaft gebe es, so stellt Lotze fest (Mikrokosmos, 1. Satz), einen alten Zwist, der wohl auch nicht beigelegt werden kann. Zu Fragen der Ethik, dem Weiterleben nach dem Tod und ähnlichen Problemen geben die Naturwissenschaften keine Antwort; und damit ist der Philosophie ihr Revier gewiesen.

 

Die Philosophen überlassen die gesamte physische Welt den Naturwissenschaftlern, aber die seelischen Fragen, die Probleme ethischer Wertsetzungen usf. akklamiert die Philosophie für sich. Doch auch in diesem ihrem Bereich ist nicht mehr Metaphysik und absolute Wahrheit gefragt, sondern Anthropologie steht im Mittelpunkt, zumindest bei Lotze. Philosophie wird zum Medium menschlicher Besinnung und Selbstbesinnung. Nicht mehr absolute Wahrheit ist das Ziel, sondern ein Gesamtbild der Welt so zu gestalten, daß Widersprüche vermieden werden oder aber zumindest unvermeidbare Widersprüche und Lücken vollständig klargelegt werden.

 

Eine anthropologisch gewendete Philosophie soll jene Bedürfnisse des Gemüts erklären und kritisch auslegen, um so möglichst die ganze Bedeutung des menschlichen Daseins in den Blick zu bekommen.