Zur Philosophie Fichtes
Denken Sie sich einen Mann, nicht sehr groß, fast kleinwüchsig, untersetzt, aber nicht dick, doch jedenfalls kräftig, in der Erscheinung vierschrötig, fast bäuerisch, im Gang breitbeinig, die Stirn leicht nach vorn geneigt, die Haare struppig und widerborstig, angriffslustig und von der Art derjenigen, die keinem Streit aus dem Wege gehen! Das ist ein Bild Fichtes, wie es seine Zeitgenossen überliefert haben.
Fichte war ein Mann der Grundsätze, kein Taktiker, kein Vertreter des Laissez faire. Und Fichte war Aktivist. Entsprechend ist auch seine Lehre. Fichte entwickelte eine Philosophie des Subjekts, eine "Ich-Philosophie". Das Wesen des Fichteanischen Ichs ist ein Sollen: Der Mensch ist zum Handeln geboren, er ist dazu geboren, sich selbst zu bestimmen und zu verwirklichen.
Fichtes Ton ist selbst in seinen Schriften oftmals aggressiv und schimpfend. Seine Bücher ähneln Sturmläufen, die den Leser gleichsam an den Schultern rütteln wollen, um sie endlich zum Verstehen zu bewegen. So lautet der Untertitel eines Aufsatzes von 1801: "Ein Versuch, die Leser zum Verstehen zu zwingen..." ("Sonnenklarer Bericht..." etc.).
Sein Tätigkeitsdrang ging mit Vorliebe in eine besondere Richtung: in die Wirksamkeit durch öffentliche Reden. Fichte war ein Redner von Geblüt und hohen Graden. Seine akademischen Lehrerfolge basierten auf dem rhetorischen Talent. Dabei glänzte er in seinen Reden nicht mit präzisen Argumenten, er überzeugte durch vitale Herzensfrische, mitreißendes Feuer und große Begeisterungsfähigkeit. Als Redner hatte er keinen Sinn für fein geschliffene Ziselierungen, Fichte wirkte durch die Wucht seiner Worte! Seine gefangennehmende Rede hätte, wie Ernst Bloch sich ausdrückte, einen “Vitaldruck” auf seine Zuhörer ausgeübt. Vgl. Seidel S. 118 Sein Arzt, der als Begründer der Makrobiotik berühmte Mediziner Christoph Wilhelm Hufeland, attestiert ihm "Überkraft" (Hypersthenie) in einem selten zu beobachtenden Maße.
Diesem Berserker unter den Philosophen gelang es, die junge deutsche Intelligenz im Sturm zu erobern: Schelling, Hegel, Schopenhauer, Novalis, Hölderlin, die Gebrüder Schlegel, alle standen sie mehr oder weniger lange im Bann seiner Gedanken. Viele, die meisten wandten sich mit der Zeit von ihm ab, Fichtes Impulsivität tat das ihrige dazu: Am Ende seines Lebens hatte er sich mit fast allen seinen alten Freunden und Anhängern überworfen. Halbheiten paßten nicht zu ihm.
Ob man ihn nun mochte oder anfeindete: Fichte war ein Mann der Zivilcourage! Und genau das stieß immer wieder auf Unverständnis. Karl Jaspers umschrieb das salopp so: “Wo er hinkommt, macht er Krach!” Zit. bei Schulz S. 8. - Gertrud Bäumer hat das eindringlich und wohl ein wenig zu schwärzlich beschrieben: "Bei den Kollegen ist es teils Bedrücktheit durch seine gewalttätige Art, die achtlos um sich herum zerknickt und verletzt, teils die gehässige Feindschaft der Eifersüchtigen, Ehemaligen, hinter denen er die Tore zuschmeißt, die schnell die Atmosphäre um ihn erkalten läßt. Man kann sich mit ihm nicht wohl fühlen. Man genießt ihn besser von weitem. Er ist wie Hornmusik aus nächster Nähe. Das läßt sich nicht aushalten."
Von Anfang an polarisierten sich die Meinungen über Fichte. Die einen liebten ihn, die anderen haßten ihn. In seiner Lehre selbst steckt eine heftige Energie polarisierender Effekte. So ist seine politische Theorie in vielen Stücken reinster Frühsozialismus; Fichte fordert z.B. ein allgemeines Recht auf Arbeit und die Einführung der Planwirtschaft.
Doch in seinen "Reden an die deutsche Nation" geriert er sich als waschechter Chauvinist, der das deutsche Volk über allen Klee lobt und über alle anderen Völker stellt, der die deutsche Philosophie für überlegen und vom Ausland unabhängig erklärt, dabei wohlweißlich vergessend, was Immanuel Kant David Hume dankte, was er selbst Jean-Jacques Rousseau zu danken hatte.
Ungefähr zehn Jahre lang, von 1794 bis 1803, ist Fichte der Kopf jener Bewegung, die wir heute den Deutschen Idealismus nennen. Weitere zehn Jahre lang versuchte er verlorenes Arreal zurückzuerobern, vergebens. Und dann stirbt dieser philosophische Kraftmensch, erst 51 Jahre alt.