Kontakt: juergen.rixe@yahoo.de


 Karl Marx - Skizze seines Denkens


Über die Marxsche Lehre glaubt fast jeder Bescheid zu wissen, auch ohne nur eine einzige Zeile dieses Autors gelesen zu haben; aber diese Vorstellungen gehen häufig völlig irre. So nehmen viele Menschen an, die marxistische Philosophie sei vor allem eine moralische Lehre, die die kapitalistische Gesellschaft als ausbeuterisch verurteilt und daher zum gewaltsamen Umsturz auffordert. Das ist so nicht richtig! Die marxistische Philosophie will keine antikapitalistische Morallehre sein, sondern eine wissenschaftliche Theorie, die beansprucht, gesellschaftlich-ökonomische Erscheinungen und Vorgänge erklären zu können. Dabei handelt es sich nicht um einen beliebigen Theorieansatz, sondern darum, was wir heute eine "Systemtheorie" nennen, d.h. eine Theorie, die die ökonomisch-gesellschaftliche Zusammenhänge funktionalistisch beschreibt.

Marx hatte eine unübersehbare Menge an Schülern und Anhängern. Die Wirkung der marxistischen Philosophie ist ja überhaupt enorm und nahezu unvergleichlich. Mitte des 20. Jahrhunderts sah nahezu die Hälfte der Erdbevölkerung in Marx eine Art von Propheten. Von vielen, gerade den prominenten Anhängern, hätte er sich sicherlich distanziert: Lenin, Stalin, Mao, Pol Pot, Castro und Che Guevara haben sich bekanntlich auf Marx berufen und verstanden sich als Marxisten. Schon zu seinen Lebzeiten störte es Marx, daß sich immer mehr Menschen auf ihn beriefen, die seine Lehre aber gar nicht wirklich kannten. Berühmt ist der Stoßseufzer des schon bejahrten Marx bei der Nachricht, durch die er erfuhr, daß wieder einmal eine in Frankreich neugegründete Arbeitervereinigung sich auf ihn und seine Lehre berief. "Und für meinen Teil", soll er geäußert haben, "ich jedenfalls, ich bin kein Marxist." (Brief von F. Engels an E. Bernstein, 2/3.11.1882, MEW, Bd.35, Berlin 1967, 388) Im Herbst 1882 mußte er in Frankreich zu seiner Enttäuschung erleben, wie verbohrte Marxisten mit ebenso verbohrten Anti-Marxisten diskutierten. Vgl. J. Sperber, Karl Marx. Sein Leben und sein Jahrhundert, München: Beck 2013, S. 535

Marx entwickelte eine ökonomisch-gesellschaftliche Theorie, die die historische Entwicklung der Menschheit bis hin zur klassenlosen Gesellschaft vorhersagt. Das ist richtig! Doch gleichzeitig ist ihm der gesamte Weltverbesserungsgestus, den damals wie später so viele Sozialisten besaßen, höchst verdächtigt und nahezu verhaßt. All die romantische Utopie, all das traumtänzerische Getue um eine angebliche Zukunft, in der alle Menschen Brüder und Schwestern sein sollen, verspottet er unbarmherzig. Nicht die Moral, das Elend oder die Misere der Menschen ist der Marxsche Ausgangspunkt, sondern die Entfremdung des Menschen, die Entfremdung der Menschen untereinander, die Entfremdung des Menschen von seiner Arbeit, die erst in der klassenlosen Gesellschaft aufgehoben werden könne. Wie diese klassenlose, die kommunistische Gesellschaft aussehen wird, das wußte auch Marx nicht. Es gibt ein paar einschlägige Äußerungen, die immer wieder zitiert werden; aber diese Äußerungen sind von einer metaphorischen Knappheit; Marx und Engels enthielten sich im allgemeinen sehr bewußt aller Beschreibungen der klassenlosen Gesellschaft!

Wie steht es aber mit der Aktualität von Marx? Auch für Marx bzw. für seine Lehre gilt meines Erachtens das schöne Wort, daß Totgesagte länger leben. Ich möchte nur einige wenige Zitate anführen, die ganz schnell offenbaren, daß Marx uns noch etwas zu sagen hat. Er hat uns etwas zu sagen als der wohl erste Denker der Globalisierung!

Sie wundern sich gelegentlich über die immense Auswahl der zu jeder Jahreszeit erhältlichen Früchte in der Obstabteilung eines Supermarkts? Bei Marx können Sie über die Ursachen nachlesen. - Stören Sie sich bei den folgenden Zitaten nicht an dem überkommenen Ausdruck "Bourgeoisie"; ersetzen sie ihn in Gedanken mit "multinationale Konzerne" oder "internationale Kapitalverflechtung" o.ä. Und hören Sie hin auf den eigenartigen Tonfall: Marx verurteilt hier gar nicht die Bourgeoisie, wie man erwarten möchte, er singt ihr einen Lobgesang! Er hält den Kapitalismus nicht für einen fatalen Fehltritt in der Weltgeschichte, sondern für die höchste Entwicklungsstufe des Menschen - vor der klassenlosen Gesellschaft.

"Die Bourgeoisie hat durch die Exploitation des Weltmarktes die Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet. Sie hat zum großen Bedauern der Reaktionäre den nationalen Boden der Industrie unter den Füßen weggezogen. Die uralten nationalen Industrien sind vernichtet worden und werden noch täglich vernichtet. Sie werden verdrängt durch neue Industrien, deren Einführung eine Lebensfrage für alle zivilisierten Nationen wird, durch Industrien, die nicht mehr einheimische Rohstoffe, sondern den entlegensten Zonen angehörige Rohstoffe verarbeiten, und deren Fabrikate nicht nur im Lande selbst, sondern in allen Weltteilen zugleich verbraucht werden. An die Stelle der alten, durch Landeserzeugnisse befriedigten Bedürfnisse treten neue, welche die Produkte der entferntesten Länder und Klimate zu ihrer Befriedigung erheischen." K. Marx, F. Engels, Manifest der kommunist. Partei, Peking: Verlag für fremdsprachige Literatur 1975,S. 37

Marx erkannte schon damals, daß die technischen Veränderungen in immer rascherem Tempo vor sich gehen und eine Art permanenter Revolution der Produktionsinstrumente auslösen würde, die z.B. auch jede Computer-Software nach wenigen Jahren überholt sein läßt. Vgl. F. Wheen, Karl Marx, 2001, 148f.

"Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren. Unveränderte Beibehaltung der alten Produktionsweise war dagegen die erste Existenzbedingung aller früheren industriellen Klassen. Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisepoche vor allen früheren aus. Alle festen, eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen." K. Marx, F. Engels, Manifest der kommunist. Partei, a.a.O., S. 36f.

Die globalisierende Macht des Kapitals erobert sich auch noch die fernsten Märkte und assimiliert sie dem Gesamtkörper der Weltwirtschaft, aber  in ihrem Gefolge, und das sah Marx ebenfalls voraus, würde sie Zivilisation, Menschenrechte und Rechtssicherheit auch noch in die dunkelsten Winkel des Erdballs exportieren oder zumindest die Kunde davon.

"Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterten Kommunikationen alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation. Die wohlfeilen Preise ihrer Waren sind die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schießt, mit der sie den hartnäckigsten Fremdenhaß der Barbaren zur Kapitulation zwingt. Sie zwingt alle Nationen, die Produktionsweise der Bourgeoisie sich anzueignen, wenn sie nicht zugrunde gehen wollen; sie zwingt sie, die sogenannte Zivilisation bei sich einzuführen, d.h. Bourgeois zu werden. Mit einem Wort, sie schafft sich eine Welt nach ihrem eigenen Bilde." Kommunist. Manifest, ebd. S. 38

Diese Zitate sind dem "Kommunistischen Manifest" von 1848 entnommen. Das Manifest ist also vor über 160 Jahren geschrieben worden, dennoch hat sich der Wirklichkeitsbezug dieses Textes nicht verflüchtigt: Im Gegenteil können wir heute erst diese Gedankengänge mit konkreten und anschaulichen Inhalten füllen, während die internationale Wirtschaftsverflechtung für Marx und seine Zeit eine sehr junge und nur vage erkennbare Realität war, ja im Grunde nur reine Zukunftsvision.

Ein Proletariat existierte damals in Deutschland noch gar nicht; es gab 1848 kaum Großbetriebe, auch in Preußen nicht; die Gesamtzahl der Arbeiter in Preußen wird für 1848 auf eine halbe Million geschätzt, in ganz Berlin auf etwa 10.000 bei 300.000 Einwohnern. Vgl. H. Kellenbenz, Dt. Wirtschaftsgesch. II 1981, 37.

Eine bedeutsame und achtungsgebietende Stärke der Schriften von Marx liegt darin, daß viele seiner Prophezeiungen eingetroffen sind; für die Wirtschaft Europas sagte er z.B. die alle anderen Bereiche überflügelnde Bedeutung des Dienstleistungssektors voraus. In vielen Fällen hat sich Marx mit seinen Annahmen und Unterstellungen geirrt, das ist unbestreitbar (z.B. im Falle der Banken, Börsen und überhaupt in der Bedeutung des Finanzkapitals, was er völlig unterschätzte); aber in erstaunlich vielen Fällen hatte er recht. Und genau das macht seine Lehre attraktiv; denn eingetroffene Voraussagen von Marx bestätigen natürlich die Seriösität der Gesamttheorie.