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Der Neukantianismus Teil 1: Die Marburger Schule

 

 

Im deutschen Kulturraum hat der Neukantianismus etwa ein halbes Jahrhundert den Ton angegeben, d.h. die bewegenden Fragen und Antworten gestellt. Rang und Namen erwarb im Neukantianismus nur derjenige, der nicht in der Kant-Exegese stecken blieb, sondern zu eigenen Fragen fortschritt und sich dabei vielleicht sogar weit vom ursprünglichen Kant entfernte. Wilhelm Windelband, einer der Akteure, brachte es auf die Formel: Kant verstehen heißt über ihn hinausgehen!

 

Die Neukantianer hatten die Ohnmacht der Philosophie im Gefolge des Niedergangs des Deutschen Idealismus und den gleichzeitigen Aufstieg der Einzelwissenschaften erlebt. Der Rückgriff auf Kant motivierte sich aber nicht aus der Ablehnung der Bizarrerien des Deutschen Idealismus, sondern aus der Entstehung der Einzelwissenschaften. Die Einzelwissenschaften zur Kooperation zu veranlassen, ihre Zusammenhänge deutlich zu machen, das ist die Aufgabe, die der Neukantianismus wahrnahm und übernehmen wollte.

 

Im deutschen Kaiserreich darf der Neukantianismus eine geschichtliche Bewegung genannt werden, die Achtung und Beipflichtung auf breiter Ebene erhielt, in den anderen Wissenschaften und im geistigen Leben überhaupt. Anhänger und Gegner konnten sich ein Bild vom Neukantianismus machen, ohne auch nur ein einziges Buch der Vertreter gelesen zu haben. Vor allem die Ablehnung von dem radikalisierten Materialismus eines Vogt, Moleschott oder Büchner wurde mit der Bewegung verbunden.

 

Der Neukantianismus formulierte sich im Blick auf die Probleme der modernen Kultur. Zeitlich fällt der Neukantianismus mit dem Aufkommen des Kulturbegriffs zusammen, damals wurden Begriffe wie Kulturgeschichte und Kulturphilosophie gebräuchlich. Das Arbeitsfeld vieler Neukantianer bezog sich auf die Gegenwartskultur und überhaupt auf die Frage: Was ist Kultur? Als Aufgabe stellte sich die Befruchtung der ganzen Kultur mit dem Geiste Kants, und zwar von jenem Kant, dem es um die Autonomie des Menschen ging.

 

Der Neukantianismus entstand in Deutschland und seine Wurzeln reichen tief hinab in die deutsche Kultur. Deshalb konnte der Neukantianismus nur in deutschen Ländern überzeugen, trotz der Bemühungen von Benedetto Croce, Ortega y Gasset oder Josiah Royce in ihren Heimatländern. Nicht die Frage der politischen Freiheit, deren Erlangung und Sicherung - wie in Frankreich, England und Amerika - führte Deutschland auf den Weg zur Moderne, sondern der Gedanke der Autonomie des Menschen: Die Bildung des Menschen als Person wurde hierzulande als wichtigere Aufgabe empfunden. Und kraft der Vernunft der Person dürfe sich der Mensch, so Kant, einem übersinnlichen Reich zuordnen.

 

Eben diesen Bedürfnissen entsprechen zu können, darauf beruht der Erfolg des Neukantianismus und letztlich natürlich in der überwältigenden Wirkung Kants auf die gesamte deutsche Kultur. Vgl. Friedrich Tenbruck, Neukantianismus als Philosophie der modernen Kultur, in Ernst W. Orth / H. Holzhey, Hgg., Neukantianismus. Perspektiven und Probleme, Würzburg: Königshausen & Neumann 1994, 71-87.

 

Die Ausbildung des Neukantianismus zu einer Bewegung resultiert zunächst aus einem abwehrenden Reflex gegen den Vulgärmaterialismus. Führende Naturwissenschaftler, trotz ihrer Neigung zum mechanistischen Weltbild, nahmen aber Abstand von einer materialistischen Weltanschauung und zu den materialistischen Ausdeutungen physikalischer Erkenntnisse. Die Nähe zu Kant empfahl sich, nämlich als Fortbildung des Kantischen Kritizismus.

 

Auch vor dem Einsetzen einer eigentlichen Kantbewegung war immer schon hier und da an Kant angeknüpft worden. In einem Vortrag von 1855 weist Helmholtz daraufhin, daß das Geschäft der Philosophie vor allem darin bestehe, die Quellen unseres Wissens und den Grad seiner Berechtigung zu untersuchen und dies sei eben das Verständnis von Philosophie bei Kant gewesen sei.

 

1860 veröffentlichte Kuno Fischer zwei bedeutende Werke über Kants Philosophie, die für die Erneuerung der Kenntnis von Kant von großer Bedeutung waren. 1862 verlangte Eduard Zeller die Wiederaufnahme erkenntnistheoretischer Forschungen im Sinne Kants. 1865 erschien die Jugendschrift Otto Liebmanns, Kant und die Epigonen, die für die Bewegung den entscheidenden Anstoß bedeutete. Jedes Kapitel seines Buch schließt mit dem Refrain: “Also muß auf Kant zurückgegangen werden!”

 

So entstand eine historische Kantforschung in größtem Maßstabe. Kants Schriften wurden in allen ihren Einzelheiten zu Objekten eingehender Untersuchungen gemacht einschließlich der Vorgeschichte des Kritizismus.

 

Nun ist aber der Neukantianismus keineswegs eine einheitliche Erscheinung; Traugott Konstantin Österreich unterschied im 4. Teil vom “Ueberweg” (1923) sieben Richtungen. Bei zwei dieser Richtungen spricht man von Schulen, nämlich der Marburger Schule und der südwestdeutschen oder badischen Schule. Näher eingehen werde ich heute nur auf die Marburger Richtung. Deren bedeutendste Vertreter sind Friedrich Albert Lange, Hermann Cohen, Paul Natorp sowie Ernst Cassirer, der mehr dem 20. Jahrhundert angehört und der nur en passant Beachtung finden soll.

 

Typisch für die Marburger ist die erkenntnistheoretische und methodologische Gewichtung ihrer philosophischen Arbeiten sowie bei den Hauptvertretern ein soziales Engagement für die Arbeiterbewegung.

 

Der Ausdruck “Neukantianismus” ist seit ca. 1875 belegbar. Der Hegelianer Karl Ludwig Michelet fühlte sich durch den Übergang Eduard Zellers von der Seite Hegels zur Seite Kants derartig provoziert, daß er seinen ehemaligen philosophischen Weggefährten abschätzig einen “Neokantianer” nannte. Damit hatte er der einflußreichsten Bewegung in der Universitätsphilosophie des Kaiserreichs ihren Namen gegeben.