Neukantianismus Teil 2: Die südwestdeutsche oder badische Schule
Ungefähr gleichzeitig mit Hermann Cohen begründete Wilhelm Windelband die südwestdeutsche oder auch badische Schule des Neukantianismus. Der Kritizismus Windelbands war allerdings anderer Art als der Cohens, denn die Inanspruchnahme Kants ist bei den Südwestdeutschen eine andere als bei den Marburgern. Das Gewicht liegt von vornherein stärker auf der systematischen Weiterbildung der kritischen Philosophie Kants.
Für die Südwestdeutschen ist Kants kritische Philosophie die Lehre von der Geltung aller kulturellen Phänomene. In Kants kritischer Philosophie sehen sie diejenige Lehre, die das Problem der Geltung aufgeworfen hat. Als Lehre der Geltung kultureller Werte war Kants Philosophie aber nicht erfolgreich genug! Somit legitimiert sich der Neuansatz der Südwestdeutschen, der aber rigoroser und radikaler als bei Kant der Geltungsfrage nachgehen soll.
Fragen der Geltung sind nicht nur in der Ethik oder der Ästhetik von beurteilender Relevanz, auch die gesamte Logik wird auf Werthaftigkeit reduziert. “Wie für das Handeln und Fühlen gibt es auch für das Denken ein absolutes Sollen, das Respektierung verlangt und das allein Urteile zu wahren bzw. falschen macht.” (T.K. Österreich, Fr. Ueberwegs Grundriss der Geschichte der Philosophie. Vierter Teil. Die Deutsche Philosophie des XIX. Jahrhunderts und die Gegenwart, 12. A., Berlin 1923, S. 449)
Im 19. Jahrhundert hatte die Philosophie den Anspruch auf Wirklichkeitserkenntnis den Einzelwissenschaften überlassen müssen. Welche Aufgabe kam jetzt der Philosophie noch zu. Die Einzelwissenschaften erarbeiten positives Wissen, die Frage nach dem Wert dieses Wissens war damit noch unbeantwortet. Der spezifische Charakter des positiven Wissens, verstanden als positiv-wissenschaftliches Wissen, treibt mit Notwendigkeit das Problem der Geltung hervor. Die Aufgabe, die nun für die Philosophie akklamiert wird, ist einzig und allein die Bearbeitung von Geltungsproblemen. Die Aprioritäten Kants verwandeln sich unter den Händen der Südwestdeutschen in Regeln, Normen und Werte, die das gesamte menschliche Kulturleben definieren und ausmachen. Die erkenntnistheoretischen Apriori Kants werden ersetzt durch einen kulturellen Apriorismus. Entsprechend gilt, daß die zunehmende Kenntnis von Werten Kultur entstehen und wachsen läßt.
Der südwestdeutsche Neukantianismus unterteilt die Wirklichkeit in zwei Sphären: Hier das Phänomen, das positive Wissen, die Erkenntnisse der Dingwelt; dort Werte, Regeln, Normen, die Seite des Geltenden. Hier direkte urteilende Gegenstandszuwendung, dort aussagenbeurteilende Gegenstandszuwendung. Der Sphäre des Wissens von Gegebenem entspricht die Sphäre des geltungsrelevanten Wissens. Oder ganz abstrakt ausgedrückt: hier das Sein, dort die Werte!
Daß einzelne Gegenstände, Gedanken, Geschehnisse wertvoll sind, das ist aus ihrem natürlichen Dasein und Inhalt niemals abzulesen; ihre Ordnung, den Werten gemäß vollzogen, weicht von der natürlichen aufs weiteste ab. Mit völliger Gleichgültigkeit bietet uns die Natur die Gegenstände unserer Wertschätzungen einmal dar und versagt sie uns ein anderes Mal. Derselbe Lebensinhalt mag uns sowohl als wirklich wie als wertvoll bewußt werden, aber die inneren Schicksale, die er in dem einen und in dem anderen Falle erlebt, haben völlig verschiedenen Sinn. Man könnte die Reihen des natürlichen Geschehens mit lückenloser Vollständigkeit beschreiben, ohne daß der Wert der Dinge darin vorkäme, gerade wie die Skala unserer Wertungen ihren Sinn unabhängig davon bewahrt, wie oft und ob überhaupt ihr Inhalt auch in der Wirklichkeit vorkommt.
Zu dem sozusagen fertigen, in seiner Wirklichkeit allseitig bestimmten, objektiven Sein tritt erst dann die Wertung hinzu, als Licht und Schatten, die nicht aus ihm selbst, sondern nur von anderswoher stammen können. Als ein dieser Welt unabhängig Gegenüberstehendes ist die Wertung ein psychologischer Vorgang, das Subjekt aber bewertet unablässig das gesamte Geschehen der Wirklichkeit um es herum.
“Man macht sich selten klar, daß unser ganzes Leben in Wertgefühlen und Wertabwägungen verläuft und überhaupt nur dadurch Sinn und Bedeutung bekommt...” G. Simmel, Philosophie des Geldes, Berlin 1977, 7. Aufl., S.4 Indem ich ein Ding wertvoll nenne, wächst ihm keine neue Eigenschaft zu; vielmehr wird sein schon allseitig bestimmtes Sein in die Sphäre des Wertes erhoben. So wenig man zu sagen wüßte, was denn das Sein eigentlich sei, so wenig kann man diese Frage dem Wert gegenüber beantworten. Wirklichkeit und Wert bilden ein berührungsloses Nebeneinander, sie sind gleichsam zwei verschiedene Sprachen, die erkennende und die wertende. Vgl. Simmel, a.a.O., S. 3-11
Die strikte Trennung von Geltung und Wirklichkeit geht auf Hermann Lotze zurück. Lotze hatte sich gefragt, welche Wirklichkeit den Platonischen Ideen zukomme? Und in diesem Zusammenhang nannte Lotze Sein und Geltung zwei verschiedene Arten von Wirklichkeit. Von Platons Ideen könne man nicht sagen, daß sie “sind”, doch sie beanspruchen Geltung! Platon hätte im Griechischen keinen geeigneten Ausdruck gefunden, der ihr Sein beschreibt. Die Unterscheidung Idee und Sinnenwelt wurde bei Windelband, ein direkter Schüler Lotzes, als Unterscheidung von Sein und Geltung paradigmatisch.
Windelbands Schüler Heinrich Rickert ist der Systematiker der Schule gewesen. Bezüglich einiger Bausteine hat er die Lehrinhalte geändert und auch erweitert, dabei war er um eine konsequente Ausgestaltung bemüht, ohne aber die Fundamente zu berühren. Anders verfuhr Rickerts genialer Schüler Emil Lask, der die Wertung auf die Gegenständlichkeit selbst zurückführte und damit die Kernthese der Wertphilosophie, die Trennung von Sein und Wert, preisgab.
Weitere Vertreter der südwestdeutschen Schule des Neukantianismus waren Hugo Münsterberg, Bruno Bauch, Jonas Cohn, Richard Hönigswald; der junge Georg Lukacs, später einer der einflußreichsten Theoretiker des Marxismus, bewegte sich zeitweilig in den Bahnen der südwestdeutschen Schule. Max Weber, Ernst Troeltsch, Gustav Radbruch oder Richard Kroner wurden in ihrem Denken von der Schule mitgeprägt.