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Ralph Waldo Emerson und Wladimir Solowjew

 

 

Bei Ralph Waldo Emerson und Wladimir Solowjew handelt es sich um christlich geprägte Philosophen, bei Solowjew sogar in einem eminenten Sinn. Beide wollten als Studenten Priester werden, Emerson war eine kurze Zeit als unitarischer Prediger tätig. Sowohl Emerson als auch Solowjew haben die geistige Kultur ihrer Heimatländer in maßgeblicher Weise beeinflußt. Emerson zählt zu den bekanntesten Philosophen der Vereinigten Staaten, der bedeutendste Philosoph des Landes ist er nicht; das ist sicherlich Charles Sanders Peirce, der Begründer der Semiotik und des Pragmatismus.

 

Tatsächlich wird jedoch Solowjew häufig als der wichtigste Philosoph Rußlands angesehen, ja, er wurde sogar schon der bedeutendste Philosoph aller slawischen Länder genannt. Vgl. Sigrid Pöllinger, Die Ethik Wladimir Solowjews, Wien: Friedensforschung 1985, 18, 25. Jedenfalls trugen beide Denker mit ihren Gedanken bei zur Bildung der jeweiligen geistig-kulturellen Identität ihrer Herkunftsländer, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu den führenden politischen Mächten der Welt aufstiegen. Der Einfluß Solowjews ist allerdings mehr oder weniger verwischt, weil die Zeit der Sowjetunion sich verdunkelnd darüberlegte; doch auch die Sowjetische Enzyklopädie der Philosophie gesteht Solowjew einen Sonderstatus in seiner Bedeutung als Denker Rußlands zu.

 

Der Einfluß Emersons auf die Bildung der us-amerikanischen Identität ist enorm, das typisch amerikanische Selbstbewußtsein, findet sich bei ihm vorgebildet. Es gibt vielleicht kein anderes Schrifttum, das das Selbstverständnis der Bürger der Vereinigten Staaten so kristallklar zum Ausdruck bringt wie die Texte Emersons und zwar bis auf den heutigen Tag. Nur Henry Thoreau, der wie Emerson ein Vertreter des sog. Transzendentalismus, der amerikanischen Romantik, war, könnte ihm hier zur Seite gestellt werden.

 

Emersons und Solowjews Einfluß zeigt sich insbesondere auch in ihrer Wirkung auf die Literaten ihrer Zeit. Emerson und die Transzendentalisten beeinflußten die Romanautoren Herman Melville und Nathaniel Hawthorne, besonders den Lyriker Walt Whitman und selbst auch Edgar Allan Poe, der allerdings Emerson nicht mochte und über ihn spottete. Vgl. Stanley Hubbard, Nietzsche und Emerson, Basel: Recht und Gesellschaft 1958, S. 61 Auch Emerson mochte Poe nicht; er nannte ihn „jingle man“. Solowjews Vorlesungen wurden regelmäßig von Dostojewskij besucht, aber auch Tolstoj hörte wiederholt bei ihm. Dostojewkijs Roman “Die Brüder Karamasow” entstand unter dem Einfluß Solowjews, die Figur des Aljoscha Karamasow hat Solowjew zum Vorbild; vor allem die in dem Roman enthaltene Novelle “Der Großinquisitor” hat viel von Solowjew aufgenommen.

 

Beide Denker vertraten eine Philosophie der All-Einheit! Und beide Autoren betätigten sich auch als Lyriker und zwar durchaus erfolgreich, die poetische Ausdrucksweise, die poetischen Ausdrucksmöglichkeiten waren beiden wichtig. Inhaltlich wurden beide stark durch die deutsche Philosophie beeinflußt, vor allem durch den deutschen Idealismus (Kant, Fichte, Schelling und Hegel). Emerson war kein systematischer Philosoph, seine Stärke ist der Essay, der Vortrag, überhaupt die kleine Form. Emerson war in seiner philosophischen Auffassungsweise Romantiker: Für den Romantiker gibt es Kräfte, die die Macht des Verstandes übersteigen. Immer wieder meditiert er über das selbe Thema, die verborgene Göttlichkeit des Menschen. Solowjew gehört einer anderen Zeit an, er entspricht eher dem Vorbild des Schulphilosophen; sein Stil ist strenger, seine Begriffe sind prägnanter. Sein Thema ist die Heilsgeschichte, die allmähliche Annäherung der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft an das Reich Gottes.

 

Der wichtigste Unterschied beider, vom Temperament und den bevorzugten Inhalten einmal abgesehen, liegt in den Zielvorstellungen. Emerson erstrebt den ganzen Menschen, die Vervollkommnung des Einzelnen, eine gestärkte Individualität. Solowjew glaubt dagegen nicht an die Möglichkeit der Vervollkommnung des Einzelmenschen, das Individuum bleibt seiner Auffassung nach immer beschränkt. Solowjew erstrebt die Vervollkommnung der Gesellschaft; nur in einer fortschrittlichen und humanitär formierten Gesellschaft könne sich der Mensch der Vollkommenheit annähern.

 

Ob sich in diesen unterschiedlichen philosophischen Tendenzen bis heute auch das Temperament von Russen und Amerikanern zeigt möchte ich dahingestellt sein lassen; einfach zu viele Strömungen, Einflusse, Tendenzen sind in diesen riesigen Ländern aktuell und von Bedeutung.

 

Ein Fingerzeig auf eine doch bemerkenswerte Parallelität in der Entwicklung Rußlands und der Vereinigten Staaten ist die nahezu gleichzeitige Abschaffung der Sklaverei: 1861 wurde in Rußland die Leibeigenschaft aufgehoben, 1863 wurden in den USA die Anti-Sklaverei-Gesetze erlassen. Auf eine solche Regelung hatte Emerson, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts lebte, hingearbeitet; auch Solowjew, der in der 2. Hälfte dieses Jahrhunderts lebte, verfolgte diese Richtung und plädierte für eine Geistigkeit ständig wachsender Humanität.