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Der radikale Materialismus in Deutschland Mitte des 19. Jahrhunderts: Vogt, Moleschott und Büchner

 

(1) Einleitung. - In der Mitte des 19. Jahrhunderts ist ein radikaler Materialismus in Deutschland zu einflußreicher Popularität gekommen. Vertreter dieser Bewegung waren Naturwissenschaftler, nicht Philosophen. Als Autoren der einschlägigen Texte werden in erster Linie Carl Vogt, Jacob Moleschott und Ludwig Büchner genannt, das sog. Dreigestirn des deutschen Materialismus, weiterhin lassen sich auch noch Heinrich Czolbe und Carus Sterne (Pseudonym von Ernst Krause) dieser Bewegung zurechnen.

 

Nun hat es in der Antike mit Demokrit u.a. sowie im 18. Jahrhundert in Frankreich mit LaMettrie, Cabanis und Holbach als Hauptvertreter, auch Denis Diderot darf noch dazugezählt werden, schon zuvor starke materialistische Geistesströmungen gegeben. Während der antike und der französische Materialismus als spekulative Naturphilosophien zu verstehen sind, glaubten sich die deutschen Materialisten des 19. Jahrhunderts wissenschaftlich-empirisch bestätigt und abgesichert.

 

Die französischen Materialisten des 18. Jahrhunderts versuchten den Menschen in Analogie zur Maschine zu verstehen, hingegen knüpften die deutschen Materialisten des 19. Jahrhunderts an die neuesten Entdeckungen der Wissenschaft vom Lebendigen an. Den gerade frisch errungenen Erkenntnissen wurde eine materialistische Deutung beigegeben und mittels dieser scheinbar authentischen Erscheinungsweise erreichte die materialistische Weltdeutung eine bis dahin unbekannte Breitenwirkung. Die materialistische Weltauffassung wurde nämlich als logische und notwendige Konsequenz aus naturwissenschaftlichen Erkenntnissen dargestellt; diese vorgebliche Notwendigkeit war aber erschlichen, hier war Ideologie am Werk!

 

Welche wissenschaftlichen Entdeckungen der damaligen Zeit eigneten sich zur Rechtfertigung des radikalen Materialismus? Da darf zunächst an die Formulierung des Satzes von der Erhaltung der Energie durch Robert Mayer (1845) gedacht werden; die naturgesetzliche Erhaltung der Kraft hat Jacob Moleschott in seinem Hauptwerk “Kreislauf des Lebens” und auch Ludwig Büchner in seinem Buch “Kraft und Stoff”, einem wahrhaftigen Bestseller des 19. Jahrhunderts, umfang- und materialienreich thematisiert: Die Unvergänglichkeit des Stoffes, die endlose Wanderung und Wandlung der Materie spricht für eine mechanistische Erklärung auch aller Vorgänge in den Lebewesen.

 

Geeigneter noch für die Rechtfertigung der materialistischen Doktrin war die Entdeckung der Bedeutung der Zelle. 1838 konnte Matthias Jacob Schleiden (1804-1881) nachweisen, daß sämtliche Bestandteile der Pflanze aus einem einzigen Grundbaustein, der Zelle, hervorgehen. Das Wachstum der Pflanzen lasse sich verstehen als das Wachstum und die Vermehrung der Zellen der Pflanzen. Schleiden erkannte auch die Bedeutung des Zellkerns für die Zelle, obwohl ihm das Prinzip der Zellteilung noch verborgen blieb. Mit Schleiden wurde aus der Botanik eine  empirisch induktiv arbeitende Wissenschaft.

 

 

Theodor Schwann entdeckte kurz darauf (1839) die tierische Zelle; die Zelle durfte daher als Grundprinzip der Entwicklung von allem Lebendigen gelten. Das Prinzip der Zellteilung konnte 1842 Theodor Bischoff bei den Säugetieren, 1844 Albert Kölliker bei den Kephalopoden nachweisen. Die Zelle mußte von nun an als Lebensherd aller Organismen angesehen werden. Pflanzliches und tierisches Leben folgt in der Entwicklung einem gemeinsamen Strukturprinzip. Das bahnbrechend Neue an dieser Theorie war, daß sie empirisch fundiert und nicht spekulativ am Schreibtisch konstruiert, sondern mit Hilfe des Mikroskopes experimentell erarbeitet war.

 

Erstmals war die Frage der Entstehung von Leben formulierbar, nämlich als Frage nach der Entstehung der Zelle. Der Zellkern wurde als Träger des Lebens erwiesen, die Zelle als Baustein der Lebewesen. Damit war ein Kriterium zur Unterscheidung von belebter und unbelebter Natur gegeben. Und dieses Kriterium war materieller Natur! Daß jede Zelle aus einer anderen Zelle hervorgeht (lat.: omnis cellula a cellula), daß kein Leben ohne Eltern entstehen kann, wurde wissenschaftliche Grundüberzeugung in der Biologie. Vgl. Annette Wittkau-Horgby, Materialismus. Habilitationsschrift. Universität Hannover 1997. Vandenhoeck & Ruprecht: Göttingen 1998. Damit war das Konzept der Urzeugung endgültig widerlegt, wonach Ungeziefer, Mäuse und Ratten spontan aus Schmutz und Unrat entstehen.

 

Ungeklärt blieb aber und ist es noch: Wie entstand erstes Leben? Und wie Bewußtsein? Die Materialisten bezogen hier klare Positionen: Leben sei spontan aus Materie hervorgetreten, Bewußtsein sei eine Funktion der Zelltätigkeit des Gehirns. Aber diese Behauptungen waren keineswegs durch wissenschaftliche Erkenntnisse abgedeckt und bestätigt. Es handelte sich vielmehr um Vermutungen, um Glaubenssätze!

 

Die deutschen Materialisten des 19. Jahrhunderts haben keineswegs den Geist radikal geleugnet. In Unterstellung einer solchen Behauptung werden sie manchmal als “Vulgärmaterialisten” bezeichnet. Diese abschätzige Benennung stammt von Karl Marx, der aber Vogt und Konsorten deshalb vulgär nannte, weil sie sich nicht zu seinem “dialektischen Materialismus” bekannten und weil sie seine Revolutionstheorie zurückwiesen. Manche heutige Autoren (Frederick Gregory) bevorzugen die Bezeichnung “wissenschaftlicher Materialismus” (scientific materialism), aber tatsächlich handelt es sich nur um einen vorgeblich wissenschaftlichen Materialismus. Ich spreche daher bei der von Vogt, Moleschott und Büchner getragenen Bewegung lieber von “radikalem Materialismus”.