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Der Turm als Rückzugsort von Philosophen

 

 

Der allein aufragende Turm ist offenbar ein Symbol für die Einsamkeit des Philosophen, doch nicht etwa für sein Alleinsein. Der Philosoph ist ja nicht allein, er besitzt die ganze Welt. Im Turm findet er den ihm gemäßen Ort: über allem!

 

Plinius der Jüngere beschreibt mit liebevollster Anschauung seine ländliche Zuflucht Laurentinum bei Ostia. Es handelt sich um eine überaus prächtige und weitläufige Villa direkt an der Küste gelegen. Hier findet er Zurückgezogenheit, das ungestörte Zusammensein mit der Natur und mit seinen Studien. Von besonderer Bedeutung für den Ausblick sind zwei Türmchen, über die die Ferienhausanlage  verfügt. Er schreibt mit Vergnügen darüber und berichtet in Briefen an seine Freunde über alle Einzelheiten der Villa. „Selbst die im Baderaum Schwimmenden haben den Blick aufs Meer, und von den Turmzimmern schweift das Auge über das weite Meer, das lang sich hinstreckende Gestade und die anmutigsten Landhäuser. Von einem zweiten Turm kann man die Sonne auf- und niedergehen sehen.“ Plinius d.J., Briefe II, 17, 12, zit. bei Alfred Biese, Die Entwicklung des Naturgefühls bei den Griechen und Römern. II Die Entwicklung des Naturgefühls bei den Römern. Kiel 1884, 162ff., 165 (Neudruck Hildesheim 1973).

 

Roger Bacon (1214 - 1292) unterrichtete  in Oxford, und er scheint als Lehrer beliebt gewesen zu sein. Darauf deutet jedenfalls sein Beiname Doctor mirabilis hin, der wunderbare Lehrer! Als Wohnung nahm er einen alten Wachturm mit dicken Mauern, wo er ein Laboratorium und eine Sternwarte einrichtete. Da seine Experimente erhebliche Summen verschlangen, mußte er immer wieder Geld auftreiben und war wohl permanent verschuldet.  Es mag am alten Turm häufig geknallt haben und die Leute sollen sich gefragt haben, was Bacon dort eigentlich trieb. Er galt als ein Schwarzmagiker. Doch der Turm als Wohnort Bacons ist wohl nur eine Legende, die in Oxford schon deshalb gern aufgenommen wurde, um Besuchern eine Sehenswürdigkeit zu zeigen. (Vgl. M. Kuper. R. B., 1996, 44ff.)

 

In Cambridge bezog Erasmus von Rotterdam zwischen 1511 und 1514 ein dort berühmtes Turmzimmer, von dem aus Stadt und Fluß gut überschaubar waren. (George Faludy, Erasmus von Rotterdam, Frankfurt am Main: Societäts-Verlag 1970 - zuerst London 1970 - S. 134)

 

Erschien der Teufel nicht dem Junker Jörg alias Martin Luther im Turm der Wartburg, um seine Bibelübersetzung zu verhindern? Na, auch das wird wohl eine Legende sein.

 

Im Alter von 37 Jahren sieht Michel de Montaigne seine Pflichten der Allgemeinheit gegenüber als ausreichend erfüllt an, 1570 verkauft er sein Amt als Parlamentsrat von Bordeaux und zieht sich auf sein Schloß zurück, um sich ganz seinen gelehrten Studien widmen zu können. Einen Turm des Schlosses läßt er sich als sein besonderes Refugium ausbauen. Im Erdgeschoß dieses Turmes befindet sich die Schloßkapelle, der 1. Stock bietet ein Schlaf- und Ruhegemach, im 2. Stock bringt er seine Bibliothek und sein Arbeitszimmer unter. Zwischen 1572 und 1573 entsteht im Turm von Montaigne das erste Buch der “Essais”. Montaigne war Katholik, aber er war mit zahlreichen Protestanten befreundet, und er war vor allem kein verbissener Katholik. Wenn am Sonntag in der Schloßkapelle der Gottesdienst stattfand, dann nahm der Schloßherr in der Regel nicht eigentlich persönlich daran teil; er ließ die Klappe zu den oberen Geschossen seines Turms offen und war derart, sozusagen von oben herab, bei der Kultfeier anwesend.

 


Im Jahre 1701 ließ Anthony Cooper 3. Graf Shaftesbury ein kleines, aber hoch aufragendes Gebäude auf seinen Besitzungen errichten, bekannt als „Philosopher's Tower“. Das Gebäude steht in einem Feld, heute noch von der B 3078 südlich von Cranborne gut sichtbar. Es wird angenommen, daß Shaftesbury hier eine ganze Reihe seiner philosophischen Schriften verfasste und daher stammt auch wohl die Bezeichnung für den Turm. Das Gebäude ist eckig, es besteht aus zwei Stockwerken, jeweils nur mit einem Raum. Das obere hat hohe Fenster an drei Seiten, das untere hat an zwei Seiten ovale Öffnungen (sog. Ochsenaugen). Die obere Etage bietet einen guten Blick nach Norden, Osten und Westen, die Südseite hat weder Fenster noch Tür, aber dort befindet sich das Familienwappen in Stein gemeißelt. In der unteren Etage hatte ein Diener zu warten, um eventuelle Wünsche seines Herrn zu erfüllen, die obere Etage war das eigentliche Arbeitszimmer des Earls.


Der seelenkranke Hölderlin fand im heute sog. Hölderlin-Turm in Tübingen Asyl bei einer Handwerkerfamilie. ”Die Geschichte des Hölderlinturms zu Tübingen lässt sich bis ins 13. Jahrhundert zurückverfolgen. 1807 wurde das Gebäude vom Schreinermeister Ernst Friedrich Zimmer erworben und noch im gleichen Jahr wurde dort der Dichter Friedrich Hölderlin bis zu seinem Lebensende untergebracht. Heute befindet sich hier das Hölderlin-Museum mit Ausstellungen und einer Präsenzbibliothek. Trägerin ist die Hölderlin- Gesellschaft.” (Dt. Wikipedia Frühjahr 2005)

 

Als Friedrich Albert Langes Eltern 1841 nach Zürich umzogen, da wurde ein Teil der Familie in Lavaters Geburtshaus untergebracht; die Wohnung dort war zwar relativ unbequem, aber in mancher Beziehung auch interessant. Drei Treppen hoch und dann noch drei weitere steile Treppen führten bis hinauf zur so genannten "Zinne". Das war der Glanzpunkt des Hauses; denn weil es eines der höchstgelegenen der Stadt war, hatte man die herrlichste Aussicht. Dort oben gab es ein solides Holzhäuschen, nach einer Seite offen, die ganze Rückwand  Fenster, an den Seitenwänden Schränkchen, worin Lavater seine Pfeifen untergebracht hatte. Friedrich Albert, bei Ankunft in Zürich zwölf Jahre alt, machte die Zinne zeitweise zu seiner Studierstube. Auch später hielt  sich der Schwindelfreie gern auf hohen Ruinen auf und gab es keinen schöneren Aufenthalt als etwa ein Turmgeländer. Das war allerdings nicht eine Sache des des klaren Blickes, sondern viel eher die des Wagemutes, der gefährlichen Höhe. Sechs Jahre lang lebte der junge Lange in Zürich. Otto Adolf Ellisen, Friedrich Albert Lange. Eine Lebensbeschreibung. Leipzig 1894, S. 13

 

Ludwig Feuerbach und Gattin Bertha bewohnten von Schloss Bruckberg den rechten Flügel, wo sich auch ein Arbeitszimmer für den Philosophen fand: Aber in der warmen Jahreszeit benutzte er die Turmstube unter der Uhr! Zum Ausbrüten seiner Gedanken brauche er, Feuerbach, ein “sicheres, obskures Nest.” Darum liebte er es, “in Dachstuben, in der Nähe der Sperlinge, Stare und Schwalben“ seinen Sitz zu nehmen.  Joseph Winiger, Ludwig Feuerbach. Denker der Menschlichkeit, Berlin 2004, S. 125

 

Friedrich Nietzsche plante im Sommer 1879 in Naumburg in der Nähe der mütterlichen Wohnung am sog. Zwinger, dem breiten Stadtwall, einen Turm und einen Obstgarten zur Betreuung zu übernehmen.  Die Mutter beauftragt er am 21. Juli verbindlich auf 6 Jahre zu 17 1/2 Taler jährlich diesen Turm zu mieten. Das Turmzimmer müsse er einfach haben.Und auch der Gemüsebau sei eines zukünftigen "Weisen" keineswegs unwürdig. Überhaupt neige er zu einer einfachen Lebensweise, die auch der Gesundheit förderlich sei. An die Schwester schreibt er am 24. Juli, daß er von Oktober an die Pacht des Zwingers bezahle und das Turmzimmer würde schon für ihn zum Wohnen hergerichtet. Doch andere Pläne fanden sich und das Thema Turmwohnung verschwindet genauso rasch aus der Korrespondenz wie der Gedanke im Juli doch auftauchte... Curt Paul Janz, Friedrich Nietzsche, 1978, 2. Bd., S. 26f., 31

 

“Es ist nicht gleichgültig”, schreibt Wilhelm Raabe, “auf was der Weise sieht, wenn er an das Fenster seines Studierzimmers tritt, und fraglich wär’s ob die ‘Kritik der reinen Vernunft’ ohne jenen weltberühmten Turmknopf zu Königsberg das Licht der Welt erblickt haben würde.” W. Raabe, Die Gänse von Bützow, Berlin o.J., 3. Kapitel, 1. Satz

  

Die Geisteswissenschaften der Universität Hamburg residieren im sog. “Philosophen-Turm” (auch “Philo-Turm”), die Philosophen sind fast ganz oben untergebracht!

 

“In einer Stadt namens Hamburg erinnerte man sich Jahre später an den großen Nutzen, den dies für die gesamte Bevölkerung hatte und beschloss, ebenfalls ein Gebäude für die hoch geachteten Denker zu errichten und sich beim Bau von dem Ziel der Maximierung ihrer Leistungsfähigkeit leiten zu lassen. Nach langer Überlegung und hitzigem Diskurs entschieden sich die Weisen der Stadt für einen Turm. Er sollte es den Philosophen ermöglichen, die Dinge in ihrer Gesamtheit zu erfassen, den Blick bis zum Horizont schweifen zu lassen, den Sonnenauf- und -untergang als erste zu Gesicht zu bekommen. Man wusste, dass das Wohl der Stadt von der Zufriedenheit ihre Denker abhing und veranlasste, dass für ihr leibliches Wohl bestens gesorgt war. Im Erdgeschoss des Gebäudes brachte man die Mensa unter, deren aufziehende Fritiergerüche bis heute die Nasen der edlen Denker umschmeicheln. Auch trug man deren Eitelkeit Rechnung und ihrem Glauben, ihre Wissenschaft sei der Nabel der Welt. Behutsam platzierte man sie in das Zentrum aller konkurrierenden Lehren und in eine Höhe, in der sie diese alle überragten: Stockwerk 11 des Philosophenturms, des zentralen Gebäudes der Universität Hamburg.”  (Verfasser unbekannt, “Glosse: Der Philosophenturm”, Internet 2012)

 

Die Philosophen logieren allerdings im 10., nicht 11. Stockwerk, sofern das Institut nicht doch immer höher hinaus will!

 

Ein sehr ähnliches Gebäude befindet sich in Edinburgh: Der David-Hume-Tower am George-Square beherbergt die Geisteswissenschaften der Uni und ist eines der höchsten Gebäude der Stadt.

 

Damit nicht genug: In Marburg ist das Philosophische Institut im sog. “Turm” in der Wilhelm-Röpke-Straße 6C untergebracht!

 

In Nürnberg tagt der jährliche Welttag der Philosophie im sog. Turm der Sinne. Letzter Welttag der Philosophie: Donnerstag, 15. November 2012.

 

Wen wundert es, daß die gängige diffamierende Bezeichnung für abgehobene weltferne Intellektualität einen Turm als Metapher heranzieht, gemeint ist der “Elfenbeinturm”. “Im deutschen Sprachgebrauch tauchte der Elfenbeinturm in dieser Bedeutung zu Beginn des 20. Jahrhunderts erstmals auf. In den 1950er und 1960er Jahren diente er insbesondere als Symbol für die Reformbedürftigkeit der deutschen Universitäten. So stellte etwa der Verband Deutscher Studentenschaften den 6. Deutschen Studententag 1960 unter das programmatische Motto Abschied vom Elfenbeinturm.” (Dt. Wikipedia 2012)

 

Ironisch äußerte sich aber schon Comenius über den philosophischen Turmbau: Wenn keine Ziele angestrebt werden, die ihrerseits jenseits der Grenzen der Naturwissenschaft liegen, könnte es geschehen, daß das Werk sich in den Bau "eines umgekehrten Turmes von Babel verwandele, der nicht zum Himmel emporstrebe, sondern sich in die Erde grabe." Johann Amos Komensky (Comenius), The way of light, zuerst 1668, übers. v. Campagnac, S. 51, zit. bei F. Yates, Aufklärung im Zeichen des Rosenkreuzes, 1975, 201.

 

Vom “Turmbau bis zu den letzten Zielen wie Welt, Gott und Freiheit” spottet auch Immanuel Kant. (Kritik der reinen Vernunft, B 735; vgl. Prolegomena, Meiner 1969, S. 2) Für M. Mendelssohn stellt die Philosophie Kants ein Bauwerk dar, das im Einsturz begriffen ist, doch der Turm droht zwar zu kippen, tut es aber doch nicht. Zit. bei Arsenij Gulyga, Immanuel Kant, Frankfurt: Suhrkamp 1985, 161.

 

Doch Arthur Schopenhauer rühmte große Geister als die "Leuchttürme der Menschheit, ohne welche diese sich in das grenzenlose Meer der entsetzlichsten Irrtümer und der Verwilderung verlieren würde". Paralipomena (1851), in: ders., Sämtl. Werke, hg. W. v. Löhneysen, 1961-65, V, § 56.

 

Erfrischend selbstspöttisch Otto Neurath: Philosophen, Theologen und Metaphysiker sitzen gleichsam auf einsamen Türmen, "von denen aus sie einander bombardieren, wobei sie die Türme während der Schlacht noch erhöhen, als wollten sie eine Zusammenarbeit immer nur schwieriger machen". Otto Neurath, Die Entwicklung des Wiener Kreises, 1936. In: Schriften 2, 1981, S. 699.