Mörder
Kylon von Kroton war ein ehemaliger, aber dann ausgeschlossener Pythagoreer, der zur Zeit der Verfolgungen der Pythagoreer in Unteritalien zahlreiche seiner früheren Schulgenossen in einem Haus in Metapont verbrannt haben soll. Der starke politische Einfluß, den der pythagoreische Bund auf viele unteritalienische Städte gewann, gab Veranlassung zu einer scharfen Verfolgung, die schließlich um 430 v.Chr. in der Verbrennung des pythagoreischen Versammlungshauses in Kroton gipfelte und zur vollständigen Sprengung des Bundes führte. (W. Bauer, Der ältere Pythagoreismus Bern 1897; E. Franck, Plato und die sog. Pythagoreer 1923; RE 11,2,1922,2461 und RE 24,1963,bes.210/8)
Kallippos, ein ehemaliges Mitglied der platonischen Akademie, hat den Platonfreund Dion ermordet.
Chion von Herakleia, Schüler des Platon, tötete im Verein mit anderen Klearchos, den Tyrannen seiner Vaterstadt, der ebenfalls Platon gehört hatte. Die unter seinem Namen überlieferten Briefe sind spätere Fälschung. (Friedrich Ueberwegs Grundriss der Geschichte der Philosophie. Erster Teil: Die Philosophie des Altertums. Hrgg. von Karl Praechter. Basel 1953, 347)
Aristoteles soll, nach Cassius Dio, Alexander den Großen vergiftet haben. (Dio Cassius LXXVII, 7. Luciano Canfora, Die verschwundene Bibliothek, 1988, 101)
Seneca war mit großer Sicherheit in ein Mordkomplott involviert, nämlich in den Plan zur Ermordung der Mutter Neros Agrippina. Zwar mag er den Mord nicht selbst befohlen haben, aber er war in das Vorhaben eingeweiht, er wußte also davon und scheint die Sache - wenn nicht moralisch, so doch politisch - gebilligt haben. (Manfred Fuhrmann, Seneca und Kaiser Nero. Eine Biographie. Berlin 1997, 247ff.)
M. Iunius Brutus (85 /78 - 42 v.Chr.), als Caesarmörder bekannt und berüchtigt, trieb bei dem Akademiker Aristos Philosophie, verstand sich als dessen "Freund und Gefährten"; B. verf. mehrere philosophische (insbes. ethische) Schriften, die von Cicero und Quintillian (Cic. Acad. I 12; Quint., Inst. X 1, 123) gelobt wurden. Er endete sein Leben durch Freitod.
Galen soll, laut einer unbewiesenen Behauptung, den Stoiker und Kaiser Mark Aurel getötet haben.
Herodes Atticus (101 - 177 n.Chr.), Sophist und Rhetor, galt als der reichste Mann der Antike. Er stiftete zahlreiche Bauwerke in Athen und Olympia. Erstmals wurde er zwischen 140 und 143 verklagt, wohl wegen Habgier und Grausamkeit. Er soll Gelder freigelassener Sklaven veruntreut und Legate des väterlichen Testaments gefälscht haben. Hauptankläger war der römische "Staranwalt" Fronto; dieser wie auch Herodes Atticus waren befreundet mit Kaiser Mark Aurel. Marc Aurel erbat von Fronto ein nachsichtiges Verfahren. Aus der Luft gegriffen schienen die Klagen nicht zu sein, trotzdem wurde Herodes wohl freigesprochen. Er stand erneut 160/161 vor Gericht, weil sein Schwager Bradua ihm vorwarf, den Tod der Regilla verursacht zu haben. Wieder kam es offenbar nicht zu einer schwerwiegenden Verurteilung. (Fronto ad M. Caes. 3,3; Ute Schall, Marc Aurel. Der Philosoph auf dem Cäsarensthron Frankfurt a.M., Berlin: Ullstein 1995, 133f., 136, 152; Pierre Hadot, Die innere Burg. Anleitung zu einer Lektüre Marc Aurels. Aus dem Französischen von Makoto Ozaki und Beate von der Osten. Frankfurt am Main: Eichborn 1996, 381f.)
Johannes Kepler soll, so ein Gerücht, Tycho Brahe ermordet haben, um selbst Hofastronom Kaiser Rudolf II. zu werden.
Die Mörder des Petrus Ramus wurden angeblich von seinem akademischen Gegner Jacques Charpentier gedungen. (Ludwig Noack Philosophiegeschichtliches Lexikon. Historisch-biographisches Handwörterbuch zur Geschichte der Philosophie, Stuttgart - Bad Cannstatt 1968, Reprint von 1879, 727ff.)
Giordano Bruno soll bei seinem ersten Rom-Aufenthalt einen Denunzianten in den Tiber geworfen haben - doch gibt es dafür keinen Beleg. (Paul Richard Blum, Giordano Bruno, München: Beck 1999, S. 19; Anacleto Verrecchia, Giordano Bruno. Nachtfalter des Geistes. Wien u.a.: Böhlau 1999, S. 62f.)
Als im Verlauf einer außerordentlichen Sitzung des Pariser Parlaments am 21. August 1651 die verschiedenen Fraktionen der Fronde aneinandergerieten, versuchte Francois LaRochefoucauld, der berühmte französische Moralist, den Kardinal von Retz zu erwürgen. (Jacques Attali, Blaise Pascal. Biographie eines Genies, Stuttgart: Klett-Cotta 2006 (zuerst 2000), S. 144)
Nicolas Malebranche (5.8.1638 – 13.10.1715) wurde “ermordet”, verkündigt der Satiriker Thomas de Quincey (Der Mord als schöne Kunst betrachtet, Frankfurt/M. 1977) seinen Lesern, reibt sich die Hände und fährt fort: “Der Name des Mörders ist uns wohl bekannt - es war der Bischof Berkeley.” Tatsächlich soll George Berkeley Malebranche im Monat seines Todes besucht und mit ihm gegessen haben. Bei ihrer philosophischen Plauderei wäre Berkeley, “von dem giftigen alten Franzosen bis aufs Blut gereizt, handgreiflich” geworden. “In der ersten Runde ging Malebranche zu Boden, schon war er ganz kleinlaut und hätte sicherlich aufgegeben, wenn Berkeley, der jetzt in Harnisch geraten war, nicht von ihm verlangt hätte, seine Lehre von den 'zufälligen Ursachen' zu widerrufen. Das war der Eitelkeit des Alten denn doch zu viel - er widerrief nicht und fiel als Opfer irischen Ungestüms und seiner eigenen Halsstarrigkeit.” (Quincey, S.65) Malebranche starb “angeblich infolge der Aufregung anläßlich einer Diskussion mit Berkeley”, so liest es sich auch in der älteren Literatur. “Das ist natürlich eine Fabel”, werden wir von der modernen Philosophiegeschichtsschreibung belehrt, weil die beiden zu der Zeit, als Berkeley in Paris weilte, gar nicht zusammentreffen konnten. (Wolfgang Röd, Herausgeber, Geschichte der Philosophie, München 1976ff., VIII 112) Doch Berkeley könnte nicht nur einmal, wie allgemein angenommen wird, sondern kurz darauf noch ein zweites Mal in Paris gewesen sein. (Vgl. Quincey S. 174f.) Natürlich ist George Berkeley über jeden solchen Verdacht erhaben!
Donatien Alphonse François Marquis de Sade (2.6. 1740 – 2.12.1814) vergiftet zwei junge Mädchen mit Kantharidin; er hat die Wirkungskraft des Aphrodisiakums unteschätzt. Die einflußreiche Familie kann das Todesurteil verhindern, nicht aber die Kerkerhaft für den pornographisch schon einschlägig bekannten de Sade. Über 11 Jahre verschwindet er hinter den Mauern des Staatsgefängnisses von Vincennes. Wenn er nicht wahnsinnig wird in dieser Kerkerwelt (die er in Briefen an seine Frau beschreibt), dann weil er sich ein literarisches Universum erschafft. Was er schreibt, wird zensiert, konfisziert, verbrannt oder geht verloren. Von seinen 74 Lebensjahren wird er 31 in Gefängnissen verbringen. Viermal gelingt es ihm zu fliehen. Einmal ist er vier Jahre lang auf der Flucht, hetzt kreuz und quer durch Italien und wird wieder eingefangen. Seine Phantasie gebiert die schrecklichsten Dinge, aber er weigert sich, den Jakobinern der französischen Revolution schmutzige Dienste zu leisten. Vier verschiedene Gesellschaftssysteme finden Gründe, ihn immer wieder einzusperren: das Ancien régime unter Ludwig XVI., Robbespierres Terrorregime, Napoleons Herrschaft und die Restaurationsmonarchie unter Ludwig XVIII. Als Napoleon noch erster Konsul war, hat der Marquis die Dreistigkeit, seine Romane Justine und Juliette kostbar gebunden ihm anzubieten. Bonaparte wirft sie ins Feuer, die ganze Auflage wird eingezogen, der Verfasser festgenommen. Die letzten 14 Jahre lebt er im Irrenhaus von Charenton, wo er mit den Insassen selbst verfaßte Theaterstücke aufführt, bis die napoleonische Verwaltung seine erfolgreichen Therapieversuche stoppt. Alle vereint die Angst vor der jede Ordnung gefährdenden Dimension seiner sexuellen Phantasien, die Angst vor einer Philosophie, die keinen Gott und keine Autorität außer der der Gewalt kennt. Aber de Sade ist nur das beste Beispiel dafür, wie Gewalt Sexualität deformiert. (Michael Siegert, De Sade und wir. Frankfurt/M. 1971)
Bei der Ermordung Kotzebues durch den Studenten Sand war Karl Follen (1795-1840) involviert. Follen sah man als Drahtzieher der Tat an, und er wurde verdächtigt, an den Vorbereitungen bei dem Attentat auf Kotzebue maßgeblich beteiligt gewesen zu sein. Tatsächlich gehörte der Student Karl Ludwig Sand zu jenen seiner Anhänger, die sich die “Unbedingten” nannten. Sand hatte Follen angekündigt, daß er der Vollstrecker des allgemeinen Volkswillens an dem Verräter und Volksverderber Kotzebue sein wolle. Follen unterstützte ihn vermutlich mit Geld und Paß und ließ ihn nach Mannheim abreisen, wo er Kotzebue mit einem Dolchstich tötete. Follen wurde auf Requisition Preußens 1824 aus der Schweiz verwiesen. Von Frankreich aus wagte er den großen Schritt und emigrierte 1829 in die USA, wo er als Rechtsgelehrter, politischer Publizist und Kenner der deutschen Literatur zu hohem Ansehen gelangte. Seinen Tod fand er beim Untergang des Dampfschiffes Lexington, das am 13.1.1840 auf der Route New York - Boston in Flammen geriet und mit der ganzen Besatzung zugrunde ging. Lit. ADB 7, 1877, 149; R. Fick, Auf Deutschlands hohen Schulen, 1900, 102f.; H. Haupt, K.F. und die Gießener Schwarzen, 1907.
Louis Althusser (1918 – 1990), marxistischer Philosoph. Berühmt wurde er durch seine strukturalistischen Ideologie-Studien, u. a. Pour Marx von 1965. Nach wiederholten Klinikaufenthalten wegen schwerer Depressionen erwürgte er am 16. 11. 1980 seine Ehefrau Hélène in der gemeinsamen Wohnung. Im Zuge einer “intensiven und unvorhersehbaren Krise geistiger Verwirrung” habe er seine Frau gemordet, die sein “Ein und Alles auf der Welt” gewesen sei (Althusser S. 9): “Am Sonntag, dem 16. November, um neun Uhr, fand ich mich, aus einer undurchdringlichen Nacht aufgetaucht, die ich auch seither nie habe durchdringen können, am Fußende meines Bettes wieder, Hélène im Morgenrock vor mir ausgestreckt, und mich fortgesetzt ihren Nacken massierend, mit dem intensiven Gefühl, daß meine Unterarme mich beinahe schmerzten: offensichtlich von dieser Massage. Dann begriff ich, ich weiß nicht wie, es sei denn aufgrund der Unbeweglichkeit ihrer Augen und jenes kleinen Stückchens Zunge zwischen Zähnen und Lippen, daß sie tot war.” (Althusser S. 290) Nach nur dreijährigem Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik entließ man ihn in die Freiheit. Seine intellektuelle Biographie galt jedoch als beendet, aber der Mörder meldete sich posthum mit einer beeindruckenden Autobiographie noch einmal zu Wort. Lit. L. A., Die Zukunft hat Zeit. Zwei autobiographische Studien, Frankfurt/M. 1993; Der Spiegel 1992, 19, 292-294.